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+ Fast wäre das Lamm von der Klippe gestürzt. Der Schäferhund hatte es
+ nach dem Pfeifen des Hirten grade noch erreicht. Das Lamm versucht
+ wieder und wieder sich von der Herde zu entfernen, nur um dann wieder
+ eingefangen zu werden. Es scheint kein Interesse zu haben an den saftig
+ grünen Wiesen. Während die anderen grasen, schaut es über die Klippen
+ zum weiten Ozean. Nach etlichen Fluchtversuchen lässt es sich immer
+ weniger vom Hund beeindrucken, bis es diesen ganz ignoriert und gebannt
+ zum Felsvorsprung an der Küste rennt. Der Hirte schafft es mit schnellem
+ Schritt grade noch rechtzeitig, das Lamm einzuholen und fasst es mit
+ beiden Armen. Er bringt es selbst zurück zur Herde. Dieses eine Lamm
+ sammelt er nun jeweils selbst ein. Tag für Tag. Morgens, Mittags und
+ Abends. Doch der Hirte ist schnell genug.
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+ Der Hirte ist frustriert und verzweifelt. Statt Nickerchen machen zu
+ können, muss er nun immer auf dieses eine Lamm aufpassen. Was für eine
+ Last. Im Gasthof berichtet er dem Wirt von dem Problemlamm. Dieser hält
+ inne und fragt den Hirten: “Für dich ist das Lamm eine Last. Das Lamm
+ hat sich durchgerungen und ist selbst nach langer Zeit noch
+ entschlossen, sich von der Klippe zu werfen. Wenn das Lamm für dich eine
+ Last ist, bloss weil du dich deswegen nicht auf dem Feld ausruhen magst,
+ was denkst du, bist du für das Lamm?”
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+ Der Hirte fühlt sich entblösst, hatte er sich die Frage doch nie
+ gestellt. Das Lamm ist noch so jung, denkt sich der Hirte. Was wisse das
+ Lamm schon übers Leben. Die Sache beschäftigt den Hirten weiter, doch er
+ findet es falsch, sich dem Willen des Lammes zu beugen. Er bemüht sich
+ um das Lamm, streichelt es grosszügig. Doch das Lamm wirkt unbeeindruckt
+ und starrt weiter in die Ferne.
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+ Als das Lamm zum Schaf wird und den ersten vollen Wollmantel abgab,
+ wandert es wieder zu den Klippen. Der Hirte bringt es nicht übers Herz,
+ tatenlos hinzuschauen und holt das Schaf zurück zur Herde. Er streichelt
+ es über den nun erwachsenen Kopf, der in die Ferne starrt und seufzt
+ tief. Er setzt sich hin, im Schatten eines toten Baumes und lässt sich
+ einschlafen.
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+ Zeichnung von Lorena Zdanewitz. +
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+ Im Zoo sieht der kleine Sebastian einen jungen, kleinen Gorilla. Er
+ sieht ganz traurig aus. Sebastian findet das schade. “Was hast du,
+ kleiner Gorilla?” Als könne der Gorilla Sebastian verstehen, zeigt
+ dieser auf den Zaun und macht dann einen Schmollmund.
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+ Manch andere Tiere sind ja ganz glücklich hier. Sie kriegen zu fressen
+ und werden gut behandelt, ohne sich Sorgen um Fressfeinde zu machen. Der
+ Gorilla hier ist aber nicht glücklich. Er will die Welt sehen. Der
+ Gorilla umschränkt sich mit seinen Armen und drückt fest zu. Er fühlt
+ sich wohl eingesperrt. Sebastian entschliesst sich, dem Gorilla raus zu
+ helfen. Als die Zoowärter die Gorillas füttern, legt Sebastian einen
+ Kieselstein an den Türrahmen, bevor die Tür sich schliesst, sodass sie
+ einen Spalt offen bleibt.
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+ Als der Zoo zu macht versteckt sich der kleine Sebastian hinter den
+ Plüsch-Giraffen im Souvenirladen. Als es dunkel wird, geht Sebastian auf
+ Fussspitzen ganz leise raus. Er schleicht zum Gorilla Gehege, wo der
+ gleiche Gorilla noch immer an derselben Stelle ist, nur schläft er dort
+ bereits. Sebastian klopft leise am Glas. Der Gorilla schaut ihn
+ überrascht an. Er beginnt zu verstehen und grinst Sebastian an.
+ Sebastian sieht, dass die Tür immer noch einen Spalt offen ist und macht
+ dem Gorilla auf, der nicht zögert und auf seinen Fäusten zu Sebastian
+ hintrottet. Sebastian macht wieder zu, vergisst vor Aufregung aber den
+ Kieselstein weg zu machen.
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+ Sebastian geht mit dem Gorilla in den Wald, weil er Angst hat, dass
+ sonst Leute ihn sehen und wieder einsperren wollen. Ein halber Mond
+ zeigt sich und einige Sterne sind auch zu sehen. Sebastian zeigt ihm die
+ schönen Stellen im Wald. Einen kleinen Wasserfall in den der Gorilla
+ sofort reinhüpft und lachen muss. “Pssssscht!”, sagt ihm Sebastian, kann
+ sich selbst aber ein fröhliches Kichern nicht verkneifen, als der
+ Gorilla sein Gesicht im Wasserfällchen wäscht. Sie gehen weiter und der
+ Gorilla kriegt kalt. Sebastian gibt ihm seine hellgrüne Jacke. Doch der
+ Gorilla zeigt in seinen offenen Rachen und kreist die andere Hand um
+ seinen Bauch. Er hat Hunger. Hm, hier im Wald hat es aber keine Bananen.
+ Hier gibt es höchstens Pilze, aber Sebastian weiss nicht welche giftig
+ sind und welche nicht. Und für einen ausgewachsenen Gorilla würde das
+ sowieso nicht reichen. Erst jetzt fällt Sebastian ein, wie aussichtslos
+ das Ganze ist. Er seufzt und erklärt dem Gorilla, dass es hier nichts zu
+ essen gibt. Der Gorilla schmollt. Klar, könnte Sebastian dem Gorilla was
+ zu essen bringen, aber was ist, wenn Sebastian krank ist? Sebastian will
+ nicht, dass der Gorilla verhungert. Und da überschwemmt die Vernunft
+ Sebastian auf traurige Art und Weise.
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+ “Wir müssen zurück, mein haariger Freund”, sagt Sebastian, “Ich kann
+ nicht garantieren, dass du hier nicht verhungerst…” Dem Gorilla kullern
+ ein paar Tränen runter. Sebastian umarmt ihn: “Ich werde dich aber
+ besuchen kommen! Jede Woche wenn’s geht. Und dann spielen wir zusammen,
+ durch die Glasscheibe!”
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+ Sie gehen zurück in den Zoo und nun ist Sebastian ganz froh, den
+ Kieselstein vergessen zu haben. Noch bevor die Sonne aufging, war
+ Sebastian auch wieder zuhause, wo seine besorgten Eltern ihn bereits
+ erwarteten.
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+ Sebastian folgte seinem Versprechen und manchmal wiederholte er seine
+ waghalsige Aktion, um den Gorilla zum Wasserfall und an andere schöne
+ Orte im Wald zu bringen. Und selbst als der Gorilla doppelt so gross
+ wurde wie Sebastian hat sich an ihrer Freundschaft nichts geändert. Es
+ ist vielleicht nicht das, was der Gorilla sich wünschte, aber trotzdem
+ freut sich der Gorilla nun auf jeden neuen Tag, denn es ist immer ein
+ Tag näher an Sebastians regelmässigen Besuch.
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