Zurück

Das Traumschloss

Die Nacht war so dunkel wie der Rabe schwarz ist. Der Mond schien hell durch die dünne Wolkenschicht und beleuchtete damit ein bewaldetes Tal. Die dahinterstehenden Berge waren schwach an den Umrissen zu erkennen. Das kleine Tal könnte tagsüber sicherlich einladend gewesen sein, doch heute Nacht hatte es etwas sehr Bedrohliches an sich. Ein Nebelfilm legte sich über das gesamte Tal und wer weiss, was sich dort alles tummelte.

Ich fühlte mich nicht sehr wohl als ich einen bepflasterten Weg an einem Berghang folgte. Dabei begleitete mich das gewaltige Panorama des Tales.

Nach kurzer Zeit erreichte ich es: ein riesiges Schloss. Es befanden sich unmittelbar vor einem felsigen Abhang und erstreckt sich in den Wald hinein. Es war nicht zu erkennen, wie lang diese Gebäude war, da das Ende nicht zu erkennen war. Die Fassade des Gebäudes war genauso schwarz wie die Umliegende Natur. Es fügte sich perfekt in ihre Umgebung ein, war sogar für das unachtsame Auge nicht auszumachen. Nur ein paar vereinzelte beleuchtete Fenster verrieten, dass an dieser Stelle ein gigantisches Gebäude auf mich wartete.

Irgendwie schien diese Gebäude schon Ewigkeiten an diesem Ort zu existieren. Eine merkwürdige Aura umgab das Schloss, es erweckte den Eindruck, als ob es einen eigenen Willen hätte. Eine kleine edle Treppe führte zur Eingangstüre. Die Ecken bildeten zwei enorme Türme, die bis in die Wolkendecke ragten, genau so schwarz wie der Nachthimmel. Beide Türme waren gespickt mit unzähligen steinernen Figuren, die das Tal beobachteten. Die Türe war, wie alles hier, auch übergross.

Ich hörte Festgeräusche im Inneren. Beim Eintreten überflutete mich eine Welle von Licht. Ein schöner Eingangsbereich begrüsste mich, eine Treppe mit einem roten Teppich führte zu einer zweiten, normaleren Tür, die zum Fest zu führen schien. Der Raum war grosszügig verziert und überall an den Wänden hingen Portraits von irgendwelchen Adligen und hier und da standen Stühle und Tische, Vasen in Ecken und in einem Kaminfeuer brannte wollig ein kleines Feuer. Es war ein sehr gepflegter Raum, und doch war noch niemand hier.

Ich trat nun ein und hielt auf die Tür vor uns zu. Sie war nicht abgeschlossen und wir öffneten sie. Wie erwartet, fand hier ein Fest statt. Ein Meer an Meschen, dicht aneinandergedrängt erfüllte die Luft mit ihrem Geschwätz. Man konnte einzelne Gesprächsfetzen erkennen, die aber sogleich wieder im Lärm verschwand. Unterstrichen wurde das monotone Gesprächsgemisch von klassischer Musik, die von überall her zu kommen schien. Das andere Ende des Saales war fast nicht zu erkennen, aber dort befand sich auf jeden Fall eine weitere Türe.

Ein goldener Kronleuchter hängte mitten im Saal. Mit seinem geschwungenen Design sah er fast lebendig aus. Als ich den Ketten, an dem er hängte mit den Augen folgte, verlor ich sie in einer endlos hohen Decke. Die Decke war so hoch, dass sich sogar schon Wolken im Inneren des Gebäudes gebildet hatten. An den Wänden hängten wie schon im Vorraum Bilder. Je höher die Wand wurde, desto kurioser wurden auch die Bilder und Figuren, die darin dargestellt gewesen sind, bis sie nicht mehr zu erkennen waren. Wer weiss, was für Bilder in dieser unendlichen Höhe noch hängen mögen. Der Saal war für seine Grösse aber trotzdem prall gefüllt und die Gäste tanzten und redeten miteinander. Sie waren alle festlich gekleidet.

Auf dem Weg zur anderen Türe beachteten sie mich nicht, obwohl man mir anmerkte, dass ich nicht in so ein Fest gehörte. Sie machten mir zwar Platz, wenn ich mich zwischen sie hindurchzwängte, doch niemand blickte mir in die Augen oder nahm Notiz von mir. Einmal gesehen, waren wir anscheinend schon wieder aus ihrem Gedächtnis gelöscht und sie widmeten sich wieder ihren persönlichen Angelegenheiten.

Nach kurzer Zeit habe ich die Tür an der anderen Seite erreicht. Doch diese war anders. Sie war in einem bogenartigen Gewölbe eingelassen und hatte eine normale Grösse. Ausserdem war sie mit einem blutigen Rot gestrichen. In der Mitte der Türe befand sich ein Schlüsselloch. Nach einem kurzen Versuch, die Tür zu öffnen, machten ich mich auf die Suche nach dem Schlüssel. Er muss irgendwo in diesem Raum sein.

Auf der Suche stiess ich auf eine Reihe Miniatur-Häuschen. Sie waren alle einzigartig und jedes Einzelne wurde sehr sorgfältig angefertigt. Sogar die Innenausstattung fehlte nicht. Es hätten kleine Menschen darin Leben können.

Nach kurzer Bewunderung des kleinen Handwerks, liess ich es hinter mir, als gleich nochmals etwas Unglaubliches meinen Blick einfing. In einer Nische, die in der Wand eingelassen war, stand ein uralter Baum. Seine Baumkrone reichte fast ein Viertel in den Saal hinein, was doch eine beträchtliche Distanz war.

Meine Suche nach dem Schlüssel ging weiter. Ich wusste nicht, wie lange und wo ich überall gesucht hatte, doch nach einem Blick in so ein Miniatur-Häuschen fiel mir etwas Eigenartiges auf: Anstelle von den sonst üblichen kleinen Möbeln stand in einem der Modelle zwei grössere Schachfiguren. Könnten das die gesuchten Schlüssel sein? Eines der Figuren war eine Dame, deren Holz dunkel und schön lackiert war. Die zweite Figur war ein Läufer, eher kleiner und heller. Beide waren schlicht gefertigt, aber jede Rundung und jede Einkerbung im Holz war sorgfältig verarbeitet worden.

Ich öffnete das Fenster und nahm die Figuren heraus. Sie waren etwas grösser als gedacht, sie füllten fast meine ganze Hand aus. Es war nun an der Zeit, die blutrote Tür zu öffnen.

Ich zwängte mich wieder durch die Gäste, die immer noch wie Attrappen umherliefen. An der Tür angekommen steckte ich den Schlüssel in das Schloss. Er passte perfekt.

In der Türe wurde ein komplizierter Mechanismus in Gang gesetzt. Es stellte sich heraus, dass die ganze Tür aus Zahnrädern und Kolben bestand, die sich nun in der Tür umherbewegten, begleitet von einem wirren Geräusch der arbeitenden Komponenten. Nach kurzer Zeit endete der Vorgang und die Kolben kamen zum Stillstand und das Rattern verstummte.

Einige Gäste warfen einen flüchtigen Blick auf mich, gingen dann aber schnell wieder weiter. Ihre Blicke waren von Misstrauen erfüllt. Ich bekam das Gefühl, dass diese Leute, oder besser gesagt, dieses ganze Gebäude, mich nicht gehen lassen will. Das war alles wie ein Spiel. Es lief mir kalte den Rücken hinunter, als ich diese Blicke bemerkte.

Ein Versuch, die Tür aufzudrücken, scheiterte. Sie rührte sich keinen Millimeter. Der zweite Schlüssel musste wohl auch verwendet werden. Ich wollte ihn gerade hervorholen, doch er war nicht mehr bei mir. Wo ist er? Ich suchte verzweifelt in der näheren Umgebung. Und dann sah ich ihn. Er lag direkt vor den Füssen einer Frau, die allein am Tisch sass und ihren Tee trank. Die Blicke der Gäste häuften sich immer mehr. Obwohl ich mich nicht merkwürdig verhielt, machte ich scheinbar etwas, was den Gästen ganz und gar nicht passte. Grosses Unbehagen überkam mich. Wenn ich nun den zweiten Schlüssel direkt vor einem solchen Wesen wegschnappe, könnte die ganze Lage eskalieren. Aber ich hatte keine andere Wahl.

Ich ging langsam zur Frau. Unterwegs trafen mich immer wieder diese flüchtigen Blicke der Gäste. Ich stand nun direkt vor der Frau. Als ich mich gerade bücken wollte, hob sie selbst die Schachfigur auf. Es war die Dame. Die Frau betrachtete die Figur sehr eindringlich, und dann reichte sie sie mir mit den Worten: „Du hast nicht mehr viel Zeit...“

Ohne viel zu hinterfragen, eilte ich wieder zur Tür. Die Gäste wurden immer unruhiger. Einige blickten mir schon nach oder rümpften die Nasen. Endlich an der Tür, steckte ich den Schlüssel in das Schloss, zögerte dann aber. Was passiert, wenn ich nun die Tür öffne? Auf jeden Fall nichts Gutes. Dieses Schloss lässt mich nicht einfach so gehen. Sie wird mich irgendwie aufhalten wollen.

Ich drehte die Schachfigur langsam, bis es leise klickte. Dabei spürte ich deutlich, wie der Schlüssel seine Arbeit tat. Der Mechanismus setzte fort, die Kolben und Zahnräder drehten weiter, bewegten sich. Es war wahrlich ein schöner Anblick, wie jedes Glied dieser Türe zusammenarbeitete und alles funktionierte. Wieder verging ein bisschen Zeit, bis der Vorgang mit einem lauten Einrasten eines Kolbens beendet wurde. Der Knall breitete sich im ganzen Saal aus, wurde von den Wänden wieder reflektiert und ging bis in das unendliche der Decke. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis der Nachhall verklungen war, und dann war es still im Saal. Totenstill. Jeder im Saal blieb wie angewurzelt stehen und durchbohrte mich mit ihren ausdruckslosen Blicken wie Schwerter. Niemand rührte sich. Ich muss hier raus!

Ich zog die Figur schnell wieder aus dem Schloss und stiess die Tür in der Mitte auf. Dahinter war ein kleiner Raum, ähnlich wie der am Eingang. Doch das kümmerte mich wenig. Ich rannte nun los. Die Treppe hinab und den Gang entlang. Ich rannte an unzähligen Bildern, Tische und Stühle vorbei. Wenn hier nicht alles so verrückt wäre, könnte es sich hier gut leben lassen. Ich blickte zurück und sah die Gäste aus dem Saal direkt hinter mir, aber sie rannten nicht, sie liefen nur ganz normal und doch blieben sie mir dicht auf den Fersen. Ihre Gesichter waren genauso ausdruckslos wie vorher, wie Puppen, die bloss an Fäden gezogen werden.

Es kam eine neue Tür. Dieses Mal ein grüne mit demselben Schlüsselloch in der Mitte wie die rote gehabt hatte. Wahllos steckte ich eine der beiden Schachfiguren in das Schlüsselloch und drehte ihn. Es klickte und ein Mechanismus setzte ein. Es war aber ein wesentlich Kürzerer. Ich stiess sie wieder auf und rannte weiter, ohne einen Blick nach hinten zu werfen.

Weiter vorne erkannte ich ein Ausgang. Ich gelangte in einen Innenhof des Schlosses. Es war immer noch Nacht und der Mond beleuchtete schwach die Berge am Horizont. Im Innenhof wuchsen zwei riesige Bäume. Sie waren schneeweiss und schienen die ganze Umgebung zu beleuchten. Wer weiss wie lange die hier schon stehen. Eine Mauer schloss den ganzen Innenhof ein.

Ich rannte unter den Bäumen hindurch, zum anderen Ende des Hofes. Dort erwartete mich wieder zwei weiter Türen. Beide Schlüssel passten auf jeden Fall in einen von beiden. Ich blickte nochmal zurück und stellte erleichtert fest, dass wir etwas Vorsprung zu den Verfolgern gewonnen haben.
Ich rannte geradewegs zur linken Tür in der Mauer. Ich zog die Schachfigur hervor und betrachtete sie nochmals für einen kurzen Augenblick: eine schwarze Dame.

Ich steckte sie in das Schloss. Doch ehe ich sie umdrehen konnte, griffen kleine eiserne Zangen, die aus der Tür hervorkamen, nach dem Schlüssel und zogen ihn anschliessend in das Schloss hinein. Die Tür öffnete sich und gab den Weg frei. Ich blickte zurück und sah die ferngesteuerten Gäste auf uns zukommen.

Durch die offene Tür rannte ich hinaus, und ich gelangte auf einen gleichen bepflasterten Weg wie der, auf dem wir angekommen sind. Am Waldrand blieb ich stehen, irgendetwas stimmt nicht. Ich drehte mich um und sah die offene Tür. Dahinter das riesige in Nebel gehüllte Schloss, das von der Nacht verschluckt wurde. Sind die anderen auch entkommen? Vor der offenen Tür standen die Leute vom Festsaal und starrten mich an. Sie schienen nicht einmal zu blinzeln. Aber wenigstens verfolgten Sie mir nicht mehr. Was sind das für Wesen? Ich blieb noch für kurze Zeit stehen und drehte mich dann wieder dem dunklen Wald entgegen.